Wenn die Musik brennt

Vinko Globokars "Engel der Geschichte" beim Transart-Festival in Bozen

BOZEN, 22. September

Das Feuer verzehrt (fast) alles. Unsere Sprache behält die Erinnerung an Zeiten, wo es, in hölzernen Städten, zum katastrophischen Feuersturm werden konnte. Es wird brenzlig, sagen wir, oder gar: Es ist Feuer am Dach. Und wenn die Lage brenzlig ist und brandeilig was zu tun wäre, dann raucht der Hut.

In Vinko Globokars dreiteiligem Orchesterstück "Der Engel der Geschichte" raucht der Hut, brennt's und treten andere, aus Gegenwart und Geschichte bekannte Katastrophen ein - aber nur akustisch. Die Musiker des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden (seit acht Jahren "Baden-Baden und Freiburg") bewegen raschelnd Blätter, sodaß ein virtuelles Feuer knistert, elektronische Knacke aus den Lautsprechern des Experimentalstudios der Heinrich-Strobel-Stiftung (Klangregie André Richard) lassen die Funken sprühen. Aber für die Begriffstützigen läßt er am Ende des zweiten Teils ("Mars") einen Dirigenten ein Partiturblatt anzünden und verbrennen. Die hörbare Vernichtung wird augenfällig. Dabei hat der in Berlin lebende Slowene Globokar eine ganz konkrete "heimatliche" Assoziation: den Brand der Bibliothek von Sarajewo im letzten jugoslawischen Bürgerkrieg.

Vinko Globokar, der im Juli dieses Jahres siebzig wurde, tut zwar noch immer, was einst seinen Ruhm begründete - virtuos Posaune spielen, doch nur noch eigene Stücke, nach mehr als hundert Uraufführungen seiner Gleichaltrigen von Berio über Holliger zu Kagel und dann der jüngeren Generation. Aber sein musikalisches Interesse ("Ein Komponist sollte nicht, wie Chopin oder Paganini, für das eigene Instrument schreiben, er tappt in die Falle der Routine seiner Finger") hat sich früh vom reinen Virtuosentum ab- und einer Art Klang- und Klangerzeugungsforschung zugewandt: zuerst von der Suche nach neuen Möglichkeiten auf herkömmlichen Instrumenten über die Erweiterung des Spektrums durch Elektronik, dann Interaktion mit Live-Elektronik einerseits, mit ihrem Alltag entfremdeten Gegenständen und Geräten als ungewöhnlichen Klangerzeugern andererseits. Dann zur physischen (Zirkuläratmung) und physikalischen, schließlich zur gruppendynamischen Voraussetzung des Musikmachens.

Von dieser kam er zu einer Dramaturgie der Klänge, für die das Vorhergegangene nur mehr Mittel zum Zweck ist. "Ich brauche eine Geschichte," sagt er, "die ich komponiere - aber ich erzähle sie nicht. Der Hörer soll unbeeinflußt bleiben. Jeder soll sich zur Musik sein eigenes Kino dazudenken. Die Fragen stellen sich erst nach dem Hören, nicht vorher." Er hält es für eine "französische Krankheit" (die vor allem im IRCAM grassiere), wenn jedes Stück seine eigene neue Ästhetik entwirft, der Komponist "zuerst in zwei Stunden die Strukturen seiner Komposition erklärt und dann bei einem sieben-Minuten-Stück die erschöpften Hörer einschlafen."

Statt Einführungstexte zu dichten, zitiert Globokar nur einen kurzen Passus aus Walter Benjamins "Über den Begriff der Geschichte", in dem der Philosoph ein spätes Bild von Paul Klee interpretiert. Den apokalyptisch erschrockenen "Angelus Novus" sieht Benjamin als Engel der Geschichte, den der Sturmwind des Fortschritts in die Zukunft treibt, und der mit entsetzten Augen auf die Geschichte zurückblickt - "eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft." Trotz der Beinahe-Verweigerung der Sekundärinformation, mit der Globokar das Enigmatische des Kunstwerks retten will, sind seine außerordentlich farbigen, vielfältigen, assoziationsgesättigten Klangketten deutlich genug in ihrer Gestualität, daß es nicht der genauen Kenntnis des Materials bedarf, um ihre Dramaturgie zu begreifen.

Die "Trilogie für zwei Orchester, zwei Dirigenten und Elektronik" besteht aus "Zerfall" (30 Minuten, uraufgeführt vom SWR-Orchester im Jahr 2000), "Mars" (30 Minuten, uraufgeführt 2002 vom BR-Orchester) und dem erst vor wenigen Tagen in Straßburg uraufgeführten dritten Teil "Hoffnung" (32 Minuten). In Bozen wurde das integrale Werk nach Straßburg zum zweiten Mal aufgeführt, in einer Lokreparaturwerkstätte der italienischen Bahn, die unter anderen unkonventionellen Aufführungsorten vom zeitgenössischen Festival "Transart04" genutzt wird und sich als akustisch überraschend brauchbarer Konzertsaal erwies. Peter Paul Kainrath, der künstlerische Leiter von "Transart", versah sich der Kooperation mit Andreas Cappello, dem künstlerischen Direktor der (in ihrem eigenen Programm eher lukullischen) Meraner Musikwochen und mit vielen Sponsoren - allein hätte man es mit dem kargen Budget nicht geschafft.

Der auskomponierte "Zerfall" ist jener Ex-Jugoslawiens. Fragmente balkanischer Folklore als ruinierte, halbverdeckte archäologische Fundstücke kommen aus den Lautsprechern, Die Entwicklungen in den oft antiphonisch agierenden Orchestern überdecken und zerstören sie, driften auseinander. Oft nur wenige Takte lange Karikaturen lassen Modelle ahnen, die vermutlich kaum jemand kennt: die neuen Nationalhymnen der Nachfolgestaaten von Slowenien bis Mazedonien. Manche eindeutig besetzten Klänge Trillerpfeifen, Maschinengeräusche, serbische Militärkommandos, der Befehl "Gasmaske aufsetzen!", flüchtendes Fußgetrappel im Orchester erzählen, bisweilen fast hörspielartig, tatsächlich eine Geschichte, die sich in der Geschichte oft genug wiederholt hat - und die sich hier in der musikalischen Struktur symbolisch abbildet. In "Mars", dem Krieg, sammeln herumhuschende Tontechniker Klangsamples, die dan von der Live-Elektronik widerverwendet werden - der Wiederaufbau aus den Trümmern, wenn man so will.

Auf die Frage: Was ist das Idealgewicht eines Dirigenten? geben Orchestermusiker die überraschende Antwort: Dreieinhalb Kilo. Samt Urne. Dieses Idealgewicht wird im "Engel der Geschichte" mutwillig mehrfach überschritten. Es sind gleich zwei ausgezeichnete Dirigenten (Fabrice Bollon und der opernerfahrene Martyn Brabbins), die mit dem Rücken zueinander (mit Hilfe zweier Videomonitoren synchronisiert) die beiden Orchester dirigieren. Vinko Globokar hat schon vor dreißig Jahren das komplizierte Verhältnis der Orchester zu ihren Dirigenten und der Musiker untereinander thematisiert: "Orchester - Materialien zur Diskussion eines historischen Instruments" hieß das metamusikalische Stück, das mit den Elementen reiner musikalischer Aktion sinnfällig zu machen suchte, was in surreal anekdotischer Form Fellinis Film "Orchesterprobe" und - als einen von mehreren Handlungssträngen - Szabós "Meeting Venus" thematisiert. Das WDR-Orchester, für das das Stück als Auftrag entstand, schätzte das gar nicht, und noch weniger gefiel den Musikern, daß ihre eventuelle Verweigerung schon einkalkuliert und von der Werkstruktur vereinnahmt war. Auch mit dem damaligen Südwestfunkorchester, noch unter Ernest Bour, hatte Globokar, den damals die unbefangene - bald immer befangenere - Suche nach ungehörten Klängen beschäftigte, im Zwist gelegen. Das hat sich geändert. Globokar rühmte die Bereitschaft der Musiker zur Zusammenarbeit, den Willen, auf alle seine Wünsche einzugehen. Und auch das Publikum hat sich geändert. In der vollbesetzten Bahn-Remise war die Begeisterung groß.

 

 
 

 

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© 2004 Dietmar Polaczek